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CoverSissi ist nicht gleich Sissy. Auch wenn einen die ersten zuckersüßen Szenen, untermalt mit ebenso weicher Musik, die die 90er mit Britney Spears und Co. nicht besser hinbekommen hätten, das glauben machen. Mit der österreichischen Kaiserin hat Cecilia („The Bold Type – Der Weg nach oben“-Starlett Aisha Dee), genannt Sissy, eigentlich nur gemein, dass sie unglaublich populär ist. Mit dem Unterschied, dass sie von Australien aus ihre Follower regiert.

Aus Down Under dringt ja eher wenig nach Europa. Die „Mad Max“-Filme fallen einem da ein, die „Wolf Creek“-Reihe, vielleicht noch „Crocodile Dundee“. Dann ist erst einmal Schluss. Einöde, Terror und der (Großstadt-)Dschungel vereinen sich in diesem Land der Extreme. Man gewinnt den Eindruck, dieser Kontinent hat nichts außer Extreme zu bieten – filmisch wie menschlich. Und das ist auch gut so! Denn beste Genre-Unterhaltung gedeiht in einer lebensfeindlichen Umgebung am besten. Der Independent-Streifen (NENN SIE NICHT) SISSY reiht sich da wohltuend ein. 

Den Regisseuren und Drehbuchschreibern Hannah Barlow und Kane Senes gelang ein schwarzhumoriger Horrorhit, der Aktuelles aufgreift und ins Negative verkehrt. Die beiden arbeiteten bereits gemeinsam an einem Kurzfilm („For Now“). Barlow realisierte im Horrorbereich fürs TV zwei Folgen für die in Deutschland unbekannten „Two Sentence Horror Stories“, ihr Regiekollege Senes den Südstaatenstreifen „Echoes Of War“, der allerdings nicht in Deutschland ausgewertet wurde. Also sind die beiden für die hiesigen Augen noch ein unbeschriebenes Blatt. Mit SISSY schlagen sie jedenfalls einen tiefen Pflock in unsere Herzen.

Gepflockt wird im Film zwar nicht, dafür gevlogt. Aber daran ist noch nicht zu denken, als die Kinder Cecilia und Emma in einer Flashback-Szene den Film einläuten. Mit schönem VHS-Flimmern, Timecode und ruckelnder Handkamera wird deren Unbeschwertheit wunderbar eingefangen. Sie sind die besten Freundinnen und schwören sich ewige Treue. Szenenwechsel: Cecilia ist eine erfolgreiche Vloggerin, erwachsen, 200.000 Follower. Sie propagiert gesunde Ernährung, Ausgeglichenheit, Selbstliebe und hält das eine oder andere Produkt in die Kamera. Man kennt das, Influencer müssen schließlich auch von irgendetwas leben. Kamera aus, hochgeladen. Blingdingblingding. Liebesschwüre in den Kommentaren. Hinter der Kamera ist es ziemlich unaufgeräumt, sie verdrückt kalte Pizzastücke. Die zwei Seiten der Medaille: Cecilia vor der Kamera ist nicht die hinter der Kamera. Szenenwechsel: Im lokalen Drugstore steht Cecilia plötzlich einer Unbekannten gegenüber. Ungläubig. Es ist Emma (Hannah Barlow). Überschwänglich begrüßt diese sie. Nennt sie Sissy. Und dann erinnert Cecilia sich … 

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Emma lädt sie direkt dazu ein, sie zu einer coolen Karaoke-Party zu begleiten. Kaum ist diese Party auf vollen Touren, ist die gute Emma allerdings auch schon voll und kotzt auf Cecilia. Der Begeisterung über das Wiedersehen tut das jedoch keinen Abbruch. Die Freude wird auch erwidert, denn Emma lädt Cecilia sogar noch dazu ein, sie alsbald zu einem gemeinsamen Mädelswochenende zu begleiten, was diese dankend annimmt.

Ein Trauma kommt in der folgenden Nacht in Cecilia hoch: Sie ist eben keine Sissy. Man ahnt, da war im Kindesalter ganz viel Mobbing im Spiel. Im grünen australischen Outback wird langsam klar: Die heile Welt kippt. Bereits auf der Hinfahrt mit Emmas anderen Freundinnen Tracey (Yerin Ha), Fran (Lucy Barrett) und Jamie (Daniel Monks) zeigt sich, dass nicht jeder Emmas Freude über Cecilias Anwesenheit teilt. In einer einsamen Behausung wartet Alex (Emily De Margheriti, „I Hate Kids“) auf die Gruppe, und Cecilia erlebt ihren nächsten Trauma-Flashback. Die Party-People überfahren ein Känguru und machen dem verletzten Tier dann noch komplett den Garaus. Da splattert es schon ordentlich, man ahnt: Die Erwachsenenfreigabe des Films ist nicht übertrieben. 

Im Wochenendhaus, das sehr pompös, extravagant, aber betonkühl daherkommt, wird die Vorahnung wahr. Alex verhält sich gegenüber Cecilia eiskalt. Zudem ziert Alex‘ hübsches Gesicht eine Narbe. Woher die wohl kommt, wird schon bald klar – ihr Mobbing hatte einst Cecilia die Contenance verlieren lassen. Es kommt, wie es kommen muss: Unsere sympathisch-tollpatschige Hauptfigur verübt ungewollt den ersten Mord.  Schrecklich. Der zweite erfolgt zum Teil schon mit Vorsatz. Die nächsten absolut absichtlich. Huh. Ein Slasher, bei dem von Anfang an klar ist, wer der Mörder ist, tatsächlich eine Seltenheit im Genre.

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Jedenfalls freut man sich, dass kreativ vom Leder gezogen wird, die Kameraarbeit ist zudem vorzüglich. Die Pseudo-90er-Mucke, die man glaubt zu kennen, aber noch nie gehört hat, lässt das Füßchen beim Zuschauer ordentlich mitwippen. Fetzt. Die eher unübliche Tiefe eines Slashers/Thriller wird hier durch die künstlich generierte Instagram-Welt erzeugt, die nicht realer sein könnte. Auch das Mobbing-Thema kommt nicht zu kurz. Man merkt, das Trauma nagt gnadenlos an der Hauptfigur. Und die mühsam aufgebaute Fassade ist dermaßen fragil, dass sie schon beim ersten kleinen Kratzer einzustürzen droht. Es dauert in der Tat nicht lange, bis daraus die Rache folgt. Wie Phönix aus der Asche entsteigt die Influencerin und zeigt der Außenwelt ihre innersten Dämonen. Und es wird blutig. Sehr blutig!

Von der ersten bis zur letzten Minute macht dieser australische Independent-Film unglaublich viel Spaß. Das liegt zum einen an dem gut geschriebenen Script und der temporeichen Inszenierung. Zum anderen natürlich auch an dem wunderbar aufgelegten Cast. Ganz vorn dabei ist selbstverständlich Aisha Dee. Die 30-Jährige ist nicht nur eine erfolgreiche und begabte Schauspielerin, die bereits ein halbes Dutzend US-Serien anführte, sondern auch Sängerin. Yerin Ha ist noch zu entdecken, die mitunter in der Paramount+-Serie „Halo“ mitspielt. Die große Entdeckung vor und hinter der Kamera ist allerdings Hannah Barlow, die nicht nur als Emma eine gute Figur macht, sondern auch gemeinsam mit Kane Senes das Drehbuch schrieb und Regie führte. 

Seine Premiere feierte der Film auf dem South By Southwest Festival in Austin, Texas und wurde auf der amerikanischen Streaming-Plattform Shudder vermarktet. PLAION PICTURES (vormals Koch Films) schnappte sich die Rechte an dieser kleinen Aussie-Perle und vermarktet sie auf dem deutschsprachigen Markt. Die Synchronisation ist nicht schlecht, der englische Ton aber deutlich besser. Schade übrigens, dass man im Original den markanten Down-Under-Slang nur bei einer Cop-Nebenrolle zu hören bekommt. Fast alle sprechen das übliche US-Englisch.

Bei der Blu-ray wäre durchaus noch ein wenig Luft nach oben gewesen, denn neben dem Orginalton finden sich hier nur der Original-Trailer. Hier hätte man sich durchaus ein wenig mehr gewünscht. Doch das ist Jammern auf hohem Niveau, denn (NENN SIE NICHT) SISSY ist ein gleichermaßen unterhaltsamer wie intelligenter Slasher, den sich Horrorfreunde nicht entgehen lassen sollten. 


MARCUS CISLAK     

 

Titel: (NENN SIE NICHT) SISSY

Land/Jahr: Australien 2022
Label:  PLAION PICTURES

FSK & Laufzeit: ab 18, ca. 100 Min.
Verkaufsstart: veröffentlicht