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Zeit, Lebewohl zu sagen

CAMEL haben insbesondere mit ihren frühen Alben (progressive) Rockgeschichte geschrieben. Meisterwerke wie „Mirage“, „(Music Inspired By) The Snow Goose“ oder „Moonmadness“ sollten einen Ehrenplatz in jeder gut sortierten Plattensammlung einnehmen. Bereits Mitte 2019 kontaktierte der Schreiberling das bandeigene Label Camel Productions, um ein Interview zu arrangieren. Über zwei Jahre später kam dann die Rückmeldung, dass Gründungsmitglied Andrew Latimer gegenwärtig wieder Interviews gibt. Auch angesichts der Tatsache, dass nunmehr (vermutlich) das letzte Kapitel in der Bandgeschichte aufgeschlagen wird, konnte man sich diese Gelegenheit einfach nicht entgehen lassen.

Bereits die vor zwei Dekaden absolvierte „Farewell“-Tour sollte den Abschied CAMELs von den Bühnen dieser Welt markieren. Als dann 2007 bekannt wurde, dass Andrew zudem an der seltenen Blutkrankheit Polyzythämie leidet, rechnete man eigentlich damit, dass die Band endgültig zu Grabe getragen werden würde. Trotzdem kam es jedoch noch sechs Jahre später zu einer Neueinspielung von „The Snow Goose“, während die 2018er Tour in einem viel umjubelten Auftritt der Briten in der legendären Royal Albert Hall in London mündete. Auf diesem späten Zenit ihrer Karriere angekommen und auch angesichts der fortschreitenden Erkrankung Latimers rechneten Fans nicht mehr mit einer Rückkehr. Dies sollte jedoch ein Trugschluss sein, wie der für Gesang, Gitarre und Querflöte zuständige Brite zu vermelden vermag: „Nun, offensichtlich war die Tour 2018 nicht das letzte Kapitel, aber die Konzertreise im nächsten Jahr wird es sein. Es ist Zeit, Lebewohl zu sagen! Wir wollten noch ein letztes Mal so richtig loslegen und freuen uns alle riesig darauf!“

Besagte Tour steht auch im Zeichen einer Bandgeschichte, die mehr als ein halbes Jahrhundert anhielt. Insofern hofft man natürlich, dass CAMEL dann ein buntes Potpourri aus Klassikersongs aller Schaffensperioden auffahren werden. „Die Setlist steht noch nicht fest. Wir diskutieren viele Ideen und behalten dabei die Notwendigkeit im Auge, all das musikalisch zum Fließen zu bringen. Es ist nicht möglich, das Lieblingsstück eines jeden einzelnen Fans zu spielen, aber wir werden unser Bestes geben!“ Die Bühnenaktivitäten der Briten werden 2023 mit der Tour ein Ende finden. Offen lässt Andrew indes, ob es von CAMEL noch mal neue Musik geben wird oder nicht: „Da bin ich mir noch nicht wirklich sicher. Ich schreibe eigentlich die ganze Zeit über Musik, aber das bedeutet nicht, dass daraus ein Album wird. Ein Album muss ein zusammenhängendes Kunstwerk sein. Zudem bin ich sehr selbstkritisch. Ich möchte, dass unsere Musik die Zeit überdauert und nicht einfach alles, was ich schreibe, auf eine Scheibe packen!“

Anführer mit starker Vision

Latimer ist das einzige noch verbliebene Gründungsmitglied in der Besetzung und nicht zuletzt auch deswegen der konstanteste Faktor in der Band. Insofern gibt Andrew unumwunden zu, dass er quasi Kopf sowie Herz der Gruppe darstellt und in Sachen Musik bis hin zu Geschäftsentscheidungen das letzte Wort hat. „Genau, so etwas wie eine „demokratische Band“ gibt es einfach nicht, man braucht da einen Anführer mit einer starken Vision! Trotzdem liebe ich, was Bassist Colin Bass, Schlagzeuger Denis Clement und Keyboarder Pete Jones in die Waagschale werfen, so dass alles trotzdem nach einer Einheit klingt!“

Wenden wir uns nun den ganz frühen Tagen der Band zu: Die ersten Gehversuche wurden mit Gruppen namens The Phantom Four oder The Brew unternommen. Anfang der 1970er wandten sich die Briten jedoch komplexerer, progressiver Musik zu. „Ich glaube, dass sich viele Formationen damals selbst herausforderten und die Plattenfirmen unterstützten diese Unterfangen weitaus mehr. Sie hielten die Künstler an, sich weiterzuentwickeln. Das war zu einer Zeit, bevor Anwälte und Buchhalter begannen, die Branche zu übernehmen. Es war eine Zeit freierer Meinungsäußerung, bis Plattenfirmen anfingen, Bands für Hit-Singles unter Druck zu setzen.“

Dabei sieht Latimer The Phantom Four und The Brew nicht nur als frühe künstlerische Ausdrucksmittel, die freilich von der stilsicheren Extravaganz CAMELs in den Schatten gestellt wurden. Viele der in besagten Combos gesammelten Erfahrungen waren für Andrew & Co. noch zu einem späteren Zeitpunkt von Nutzen. „Wenn mich diese Phase eines gelehrt hat, dann die Tatsache, dass ich lernen musste, mein Instrument bestmöglich zu spielen und in die Musik einzuflechten. Zudem beeinflusste mich von Anfang an irgendwie alles, was ich gehört habe.“ Auf den Bandnamen kamen die Briten indes aus purem Zufall: „Wir saßen schwatzend um einen Tisch und landeten irgendwie bei CAMEL. Außerdem war es der einzige Name, auf den wir uns alle einigen konnten.“

Während der Ära des zweiten Albums „Mirage“ bestand eine Kooperation der Band mit der gleichnamigen Tabakfirma, weswegen das kultige Cover besagter Scheibe nahezu 1:1 dem Motiv damaliger Zigarettenschachteln des Konzerns nachempfunden ist. Die Zusammenarbeit endete jedoch, da der Tabakhersteller mehr Einfluss auf die Gruppe ausüben wollte als es der lieb war. Erst kürzlich ist der Schreiberling zudem auf eine „Special Edition“-Packung von Camel-Zigaretten mit dem Titel „Mirage“ gestoßen. Da fragt man sich schon, ob dies etwa im Einvernehmen mit den Briten erfolgte oder ob da wohl in den Chefetagen der Firma schlichtweg große Fans progressiver Rockmusik sitzen? „Das war nur etwas, das unser damaliger Manager in die Wege leitete, um Geld zu verdienen. Obwohl wir selbst alle Raucher waren, kamen uns diesbezüglich Bedenken, wir hatten aber letztlich sehr wenig damit zu tun.“

Die in Rockkreisen damals noch relativ unübliche Querflöte prägte indes die frühen Scheiben der Progressive Rock-Pioniere wesentlich. Nur Urgesteine wie Jethro Tull hatten besagtes Instrument bereits schon ein paar Jährchen vorher in ihren Sound integriert. Als Inspirationsquelle würde Andrew Ian Anderson & Co. indes nicht bezeichnen. „Nein, diesbezüglich hatten mich Focus mehr beeinflusst, sprich deren Flötist/Keyboarder Thijs van Leer, deren Gitarrist Jan Ackkerman, die niederländische Fusion-/Progressive-Rock-Gruppe Supersister und andere.“

Die Gans im Gepäck

Wie im Falle vieler Progressive-Rock-Bands vom Schlage Genesis, Yes oder Kansas, die ihre Glanzzeiten in den 1970ern verlebten, brachte das darauffolgende Jahrzehnt auch bei CAMEL so einige stilistische Veränderungen. Die Songs kamen nun kompakter und Pop-orientierter rüber, die komplexe Spielweise wurde in die Annalen der Vergangenheit verbannt. Bereut Andrew diesen Schritt heute rückblickend oder hatten die Alben dieser Phase immer noch in gewisser Weise den urtypischen Band-Sound verinnerlicht, indem sie halt lediglich eine andere Seite des Stils beleuchteten? „Nun, Entscheidungen das Songmaterial betreffend werden immer zu einem bestimmten Zeitpunkt gefällt, da Alben einfach zu einem bestimmten Zeitpunkt geliefert werden müssen. Ich bedauere nur, dass einige Tracks aufgrund des Drucks damals im Nachhinein gesehen den Test der Zeit nicht bestanden haben. Und man muss sich auch immer die Dynamik innerhalb der Gruppe während des Aufnahmeprozesses vergegenwärtigen.“

Großartige Live-Momente hat es in über einem halben Jahrhundert CAMEL sicherlich so einige gegeben. Einen besonderen Stellenwert dürfte für Latimer jedoch jene Show innehaben, bei der die Band in der altehrwürdigen Royal Albert Hall anno 1975 „The Snow Goose“ komplett aufführen durfte. „Ja, und wir waren wirklich absolut nervös an diesem Abend! Das größte Highlight für mich war jedoch unsere Rückkehr in die Albert Hall im Jahre 2018. Das war der beste Moment unserer Karriere!“

Dem erwähnten, ursprünglich 1975 erschienenen Album „The Snow Goose“, lag ein Konzept über die gleichnamige Parabel aus der Feder von Paul Gallico zugrunde. Aufgrund juristischer Streitigkeiten mit dem Autor und dessen Verlag konnten jedoch Originalzitate nicht verwendet werden, weswegen die Band sämtliche Liedtexte verwarf und das Album nahezu vollständig instrumental aufnahm. Aus diesen Querelen rührt auch der offizielle Titel der Scheibe „(Music Inspired By) The Snow Goose“. 2013 entschlossen sich CAMEL, das gute Stück noch mal neu einzuspielen. „Für unsere Comeback-Tour in besagtem Jahr nach meiner Krankheit beschlossen wir quasi, mit der Gans im Gepäck zu reisen, und es erschien uns richtig, ihr einen letzten Flug zu gewähren.“

Andrew ist im Laufe der Dekaden, von diversen Ausnahmen abgesehen, nicht nur dem Sound seiner Band, sondern auch seinen Lieblingsinstrumenten und -equipment treu geblieben. Gibson-Les-Paul-Modelle scheinen ihm dabei besonders zuzusagen. „Ich liebe eigentlich alle möglichen Gitarren, bevorzuge jedoch Gibsons, das ist richtig. Diese Klampfen scheinen im Gegenzug auch mich zu mögen und sind so ein Teil von mir und meinem Sound geworden.“

Die 1970er waren in kreativer Hinsicht bekanntermaßen eine der fruchtbarsten Dekaden für die Rockmusik überhaupt. Da kann man die heutige Szenerie nur mehr schwer mit vergleichen. Und trotzdem existieren auch gegenwärtig noch Formationen, welche versuchen, neue Wege zu beschreiten. „Die frühen 70er waren herausfordernder, weil man erfinderisch sein musste. Die Technologie war noch nicht so weit wie heute, wo man alles jederzeit und überall zur Hand hat.“

Ganz verschließt Latimer seine Augen jedoch nicht vor der gegenwärtigen Musikszene: „Ich verfolge so viel ich kann, aber ohne Radiosendungen wie „Radio Caroline“ oder Musik-TV-Formate der Marke „Top Of The Pops“ und „Old Grey Whistle Test“ kann es manchmal schwer und verwirrend sein, gute Musik zu finden. Ich bin indes auch heute immer noch inspiriert von Künstlern wie zum Beispiel ABBAs Benny Andersson, dem deutschen Jazz-Bassisten Eberhard Weber, aber auch die britische Sängerin Imogen Heap finde ich klasse!“

Während sich Andrew voll und ganz auf sein Lebenswerk CAMEL konzentriert, sind seine Bandkollegen auch auf anderen musikalischen Spielwiesen aktiv. „Colin arbeitete noch mit Daniel Biro zusammen, ist bei Womex aktiv und produziert diverse internationale Künstler. Pete spielt bei Tiger Moth Tales und tritt zudem solo auf.“ Womit wir nun beim Ende der Unterhaltung angelangt wären. Die letzten Worte gehören standesgemäß dem Maestro selbst: „Wir hoffen, dass sich alle auf unserer Tour im nächsten Jahr blicken lassen werden, um uns einen guten, standesgemäßen Abschied zu bereiten und mit uns die Musik feiern!“

 

 

 

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